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Paukenschlag aus Karlsruhe: Kündigung wegen Mängeln vor Abnahme ist unwirksam!

1. Ausgangs­si­tuation: VOB/B nicht „als Ganzes“ vereinbart

Einzelne Regelungen der VOB/B sind nur dann nicht auf ihre Angemes­senheit überprüfbar, wenn die VOB/B ohne inhalt­liche Abwei­chungen insgesamt, also „als Ganzes“, in den Bauvertrag einbe­zogen wurde (vgl. § 310 Abs. 1 S. 3 BGB).

Bereits mit Urteil vom 22. Januar 2004 – VII ZR 419/02 – hatte der BGH entschieden, dass die VOB/B nur dann „als Ganzes“ vereinbart gilt, wenn von deren Regelungen überhaupt nicht abgewichen wird, insbe­sondere komme es nicht darauf an, welches Gewicht eine Abwei­chung habe. Damit ist die Inhalts­kon­trolle auch dann eröffnet, wenn nur gering­fügige inhalt­liche Abwei­chungen von der VOB/B vorliegen.

Obwohl der BGH in dieser Entscheidung ausdrücklich darauf hinge­wiesen hatte, dass dies nicht zwangs­läufig auch für Neufälle (nach Inkraft­treten der Schuld­rechts­mo­der­ni­sierung am 1. Januar 2002) gelte, bestand nahezu ausnahmslos Einigkeit, dass diese Recht­spre­chung auch auf die Rechtslage ab 1. Januar 2002 übertragbar ist.

Gleichwohl hatte das Berufungs­ge­richt in einer unlängst von dem Bundes­ge­richtshof entschie­denen Konstel­lation eine „substan­zielle Änderung“ als Voraus­setzung für die Eröffnung der Inhalts­kon­trolle einzelner Reglungen der VOB/B gefordert. Dem hat der BGH zunächst eine klare Absage erteilt und unter Verweis auf seine frühere Entscheidung aus dem Jahr 2004 auch für Neufälle nunmehr ausdrücklich klarge­stellt, dass jede vertrag­liche Abwei­chung von der VOB/B dazu führt, dass diese nicht als Ganzes vereinbart ist, unabhängig davon, welches Gewicht der Eingriff hat. Damit ist die Inhalts­kon­trolle auch dann eröffnet, wenn nur gering­fügige inhalt­liche Abwei­chungen von der VOB/B vorliegen. Ob eventuell benach­tei­li­gende Regelungen mögli­cher­weise durch andere Regelungen „ausge­glichen" werden, ist ebenfalls unerheblich.

Da in dem vom BGH entschie­denen Sachverhalt gleich mehrere Abwei­chungen von der VOB/B vorhanden waren, war der Weg für eine Inhalts­kon­trolle von § 4 Abs. 7 frei.

2. Regelungs­gehalt von § 4 Abs. 7 VOB/B

Nach dieser Regelung hat ein Auftrag­geber die Möglichkeit, eine außer­or­dent­liche Kündigung wegen solcher Mängel, die der Auftrag­nehmer trotz Nachfrist­setzung und Kündi­gungsan­drohung nicht beseitigt, auszu­sprechen, die bereits vor dem Zeitpunkt der Abnahme vorhanden sind. Diese im BGB nicht vorge­sehene Möglichkeit gibt dem Auftrag­geber im Geltungs­be­reich der VOB/B somit ein wirksames Mittel an die Hand, um den mangelhaft leistenden Auftrag­nehmer während der Ausfüh­rungszeit zur vertrags­ge­mäßen Leistung anzuleiten. Denn im Fall der Kündigung wegen nicht recht­zeitig erfolgter Mangel­be­sei­tigung droht dem Auftrag­nehmer nicht nur Verlust des restlichen Vergü­tungs­an­spruchs, sondern darüber hinaus (uU hohe) Schaden­er­satz­for­de­rungen seitens des Auftrag­gebers.

Die bisher überwie­gende Recht­spre­chung hielt § 4 Abs. 7 VOB/B gleichwohl auch bei isolierter Betrachtung für wirksam und sah darin gerade keine unange­messene Benach­tei­ligung iSd § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB. Begründet wurde diese Auffassung im Wesent­lichen mit dem erheb­lichen Interesse des Auftrag­gebers, ein mangel­freies Werk auch bereits während der Ausfüh­rungs­phase zu erhalten, insbe­sondere bestehe gerade bei umfang­reichen Baumaß­nahmen das Bedürfnis nach frühzei­tiger Mangel­be­sei­tigung (so zuletzt OLG Koblenz, Urteil vom 28. Juli 2020 – 4 U 1282/17).

3. Entscheidung des BGH vom 19. Januar 2023 – AZ VII ZR 34/20

Dieser Auffassung, für die tatsächlich ein erheb­liches prakti­sches Bedürfnis stritt, ist der Bundes­ge­richtshof in seiner mit Spannung erwar­teten Entscheidung vom 19. Januar 2023 nun entge­gen­ge­treten und hat ein klares Machtwort gesprochen. Hiernach steht § 4 Abs. 7 VOB/B in Wider­spruch zu den gesetz­lichen Grund­ge­danken des allge­meinen Leistungs­stö­rungs­rechts und des werkver­trag­lichen Gewähr­leis­tungs­rechts, weil ein Auftrag­gebers Gewähr­leis­tungs­rechte grund­sätzlich erst nach Abnahme des Werks mit Erfolg geltend machen kann.

Anzulegen für § 4 Abs. 7 VOB/B sei die kunden­feind­lichste Auslegung, wonach auch bei ganz gering­fü­gigen und unbedeu­tenden Vertrags­wid­rig­keiten oder Mängeln die Kündigung aus wichtigem Grunde eröffnet ist.

Für eine einschrän­kende Auslegung dahin­gehend, dass ganz gering­fügige und unbedeu­tende Vertrags­wid­rig­keiten oder Mängel kein Kündi­gungs­recht nach § 4 Abs. 7 VOB/B begründen könnten, ergeben sich demge­genüber weder aus dem Wortlaut noch aus der Syste­matik des § 4 Abs. 7 Anhalts­punkte (unter anderem dieses Argument hatte die Gegen­auf­fassung angeführt).

Eine Kündigung aus wichtigem Grunde könne somit ohne Einschränkung in jedem denkbaren Fall festge­stellter Vertrags­wid­rigkeit oder Mangel­haf­tigkeit ausge­sprochen werden, losgelöst davon, welches Gewicht der Vertrags­wid­rigkeit oder dem Mangel im Hinblick auf die Fortsetzung des Vertrags­ver­hält­nisses zukommt. Ein solches Kündi­gungs­recht wider­spricht jedoch dem gesetz­lichen Leitbild, das in § 314 BGB für ab dem 1. Januar 2002 abgeschlos­senen Verträge vor Einführung des § 648 a BGB seinen Ausdruck findet. Hiernach ist Voraus­setzung für eine Kündigung aus wichtigem Grunde immer, dass der Auftrag­nehmer durch ein den Vertrags­zweck gefähr­dendes Verhalten die vertrag­liche Vertrau­ens­grundlage zum Auftrag­geber derart erschüttert hat, dass diesem unter Berück­sich­tigung aller Umstände des Einzel­falls und unter Abwägung der beider­sei­tigen Inter­essen die Fortführung des Vertrags­ver­hält­nisses nicht mehr zugemutet werden kann.

Hervor­zu­heben ist jedoch, dass der Bundes­ge­richtshof Auftrag­gebern, die durch dieses Urteil in der Tat schlechter gestellt werden, einen Weg gewiesen hat:

Denn ein berech­tigtes Interesse des Auftrag­gebers, die Fertig­stellung durch den Auftrag­nehmer nicht mehr abwarten zu müssen, könne insbe­sondere aus der Ursache, der Art, dem Umfang, der Schwere oder den Auswir­kungen eines Mangels – auch vor Abnahme (!) – folgen.

4. Auswir­kungen für die Praxis

Die Hürden für den Ausspruch einer außer­or­dent­lichen Kündigung wegen Mängeln vor Abnahme sind nach dem Urteil des BGH höher geworden. Auftrag­geber werden diesen noch genauer wägen müssen.

Eine außer­or­dent­liche Kündigung wird hiernach nur noch wegen solcher Mängel in Betracht kommen, die von erheb­lichem Gewicht/Umfang sind und (oder) deren Ursache beispiels­weise in einem besonders groben Verstoß gegen die anerkannten Regeln der Technik liegt. Jeden­falls müssen Gewicht/Umfang und (oder) Ursache der Mängel geeignet sein, das Vertrauen des Auftrag­gebers zu erschüttern und eine Fortsetzung des Vertrags­ver­hält­nisses unzumutbar machen. Auch das wieder­holte Auftreten von Mängeln während der Ausfüh­rungs­phase kann zu einem tiefgrei­fenden Verlust an Vertrauen in die Leistungs­fä­higkeit des Auftrag­nehmers führen und damit Grundlage einer außer­or­dent­lichen Kündigung bilden. Weiterhin kommt eine außer­or­dent­liche Kündigung wegen mangel­hafter Leistung vor Abnahme in Konstel­la­tionen in Betracht, in denen mehrere Gewerke zusam­men­wirken und die mangel­freie Vorleistung eines Auftrag­nehmers Voraus­setzung für den Beginn eines Folge­ge­werks ist, dessen recht­zei­tiger Beginn wiederum Voraus­setzung für die Wahrung des vertraglich festge­schrie­benen Bauab­laufs ist.

In allen Fällen müssen jedoch die konkreten Umstände des Einzel­falles umfassend abgewogen werden, insbe­sondere sollten zunächst Nachfrist­set­zungen und Mahnungen unter ausdrück­licher Bezug­nahme auf die konkreten Umstände ausge­sprochen und dokumen­tiert werden. Auftrag­geber sollten außerdem noch genauer darauf achten, Fertig­stel­lungs­fristen – auch Zwischen­fristen – als Vertrags­fristen im Sinne des § 5 Abs. 1 VOB/B zu verein­baren, denn das Erfor­dernis, Mängel bereits während der Ausfüh­rungs­phase zu besei­tigen, kann im Einzelfall mit erheb­lichem Zeitaufwand verbunden sein und verun­mög­licht unter Umständen die Einhaltung von Fertig­stel­lungs­fristen.

Weiterhin sollte das Augenmerk auf alle sonstigen Umstände gerichtet werden, denn oftmals bilden Mängel nur eines von mehreren Symptomen eines nicht in erfor­der­lichem Maße leistungs­fä­higen/leistungs­wil­ligen Auftrag­nehmers ab, sodass das Vertrags­ver­hältnis auch aufgrund weiterer Umstände gestört ist.

Zusam­men­ge­fasst sollten vor Ausspruch einer außer­or­dent­lichen Kündigung – als ultima ratio – alle anderen Möglich­keiten nachweislich ausge­schöpft worden sein, um eine vertrags­gemäße Leistung des Auftrag­nehmers zu erreichen. Erst hiernach kommt der Ausspruch einer außer­or­dent­lichen Kündigung in Betracht.

Heidelberg, im März 2023

Herr Clemens Maurer ist Rechts­anwalt bei GRÉUS Rechts­an­wälte an unserem Standort in Heidelberg und seit 2015 Partner der Sozietät. Als Fachanwalt für Bau- und Archi­tek­ten­recht berät und vertritt er Mandanten in allen Fragen des privaten Baurechts sowie des Archi­tekten- und Ingenieur­rechts. Ein weiterer beson­derer Schwer­punkt liegt in der Beratung und Vertretung von öffent­lichen Auftrag­gebern.

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